Gastbeitrag von Clarissa Pinkola Estés
Die Psychoanalytikerin und „Cantadora“ Clarissa Pinkola Estés hat voriges Jahr einen Brief an eine junge Aktivistin geschrieben, der ebenso ermutigend wie wegweisend ist. Nach Teil I hier die Fortsetzung:
„Blicke hinaus über Deinen Bug: Dort sind Millionen rechtschaffener Seelen mit Dir zusammen auf dem Wasser. Tief in Deinen Knochen wusstest Du immer schon, dass dem so ist.
Selbst wenn Deine Außenplanken in diesem stürmischen Aufruhr bei jeder Welle erzittern, versichere ich Dir, dass die langen Hölzer, die Deinen Bug und Dein Ruderblatt bilden, aus einem sehr großen Wald kommen. Dieses langfaserige Holz ist bekannt dafür, dass es allen Stürmen trotzt, zusammenhält, sich behauptet und stetig weiter vorankommt.
Wir haben uns für solch dunkle Zeiten wie diese vorbereitet, und zwar von dem Tag an, als wir einverstanden waren, zur Welt zu kommen. Jahrzehntelang wurden weltweit Seelen wie die unseren unablässig und auf vielerlei Art und Weise zu Fall gebracht und für tot erklärt – niedergestreckt durch Naivität, durch Mangel an Liebe, durch plötzliches Erkennen der einen oder anderen tödlichen Sache, durch nicht rechtzeitiges Erkennen einer weiteren Sache, im Extremfall dadurch, dass wir durch kulturelle und persönliche Schocks wie in einen Hinterhalt gelockt und überfallen wurden .
Wir alle haben eine lange Geschichte herber Enttäuschungen und tragen dieses Erbe in uns, doch bedenke ganz besonders auch dies: Wir haben aus der Notwendigkeit heraus in gleichem Maße die Gabe des Wiederaufstehens perfektioniert.
Immer wieder waren wir der lebende Beweis dafür, dass das, was ausgestoßen wurde, zum Untergang oder Scheitern verurteilt war, zu neuem Leben erweckt werden kann. Dies dient den darniederliegenden Welten um uns herum als ebenso wahre und starke Prognose, wie es einst für unser schwerverwundetes eigenes Selbst galt.
Wir sind nicht unverwundbar, doch hilft uns unsere Lust am Lachen, jenen Zynikern ins Gesicht zu lachen, die sagen „einmalige Chance!“ und „Geschäft geht vor Gnade!“ und andere Beispiele komplett fehlender Seelen-Wahrnehmung. Dies, wie auch die Erfahrung, dass wir mindestens einmal eine Fahrt „zur Hölle und wieder zurück“ überstanden haben, macht uns garantiert zu einem tauglichen Schiff. Auch wenn Du das selbst nicht glaubst, ich versichere Dir: Du bist ein solches.
Auch wenn Dein klägliches Ego die Größe Deiner Seele anzweifeln will, so kann dieses kleinere Selbst nie auf Dauer das größere Selbst unterwerfen. In Sachen Tod und Wiedergeburt hast Du den gesetzten Maßstab etliche Male übertroffen. Vertraue dem Beweis aus jeder beliebigen der vielen Prüfungen und Proben, die hinter Dir liegen, nämlich: Stehst Du noch? Die Antwort lautet: Ja! (und hier lasse ich jegliche Zusätze wie „gerade mal so“ nicht gelten). Wenn Du immer noch aufrecht stehst, mit zerrissenen Fahnen oder auch ohne, dann hast Du alles nötige Können. Du hast die Latte übersprungen. Und sie sogar höher gelegt. Du bist seetüchtig.“
Fortsetzung folgt