
Gedenktag
Heute vor 126 Jahren kam Ruth Vogtenberger in Ostpreußen zur Welt. Ihre letzte Ruhe fand sie hier auf dem Alten Friedhof.
Im Jahr 1919 war sie bei den Pariser Friedensverhandlungen dabei, an jenem Ort, an dem Geschichte geschrieben wurde. Möglicherweise schrieb sie diese im wahrsten Sinne des Wortes sogar selbst – als Dolmetscherin und Sekretärin, die sie war.
„Ein unvergeßlicher Lebenskreis hat sich geschlossen“ steht über ihrer Todesanzeige im Jahr 1984. Leider ist über sie nicht mehr allzu viel bekannt. Doch das Wenige, das zu erfahren ist, klingt spannend.
Ruth Vogtenbergers Mutter, Eugenie, ist eine geborene Niethammer und stammt aus einer großbürgerlichen Familie in Ravensburg, der Vater war Spitalverwalter und ermöglichte ihr eine erstklassige Ausbildung in einem Pensionat am Genfer See. Als Ingenieur meldete der 1849 in Tübingen geborene Paul Vogtenberger im Jahr 1875 in Ravensburg ein Patent auf „eigentümliche Dampfmaschinensteuerungen“ an.
In jenem Jahr wurde Eugenie Niethammer 23 Jahre alt. Gemäß der Recherchen von Ulrike Schwäble für den Heimatblätterband über den Alten Friedhof Schorndorf heirateten beide und zogen nach Königsberg in Ostpreußen, wo Paul Vogtenberger bei der „Union Gießerei“ arbeitete. Am 18. November 1894 wurde dort Marianne Anita Ruth Vogtenberger geboren, als jüngstes Kind nach ihrer Schwester Erika und ihrem Bruder Curt.
Schon im Jahr 1900 starb Paul Vogtenberger. Daraufhin zog es seine Witwe zusammen mit der kleinen Tochter wieder ins Württembergische, möglicherweise, weil ihre Mutter, Pauline Niethammer, geborene Hoffmann, in Winterbach lebte. Ein „Staatsangehörigkeitsausweis“ für Ruth Vogtenberger, der bescheinigt, dass sie „durch Abstammung die Eigenschaft als Württembergerin besitzt“, wurde am 26. August 1912 in Schorndorf ausgestellt. Zuletzt wohnte Eugenie Vogtenberger im Pfarrtöchterheim Marienstift in der Schlichtener Straße, wo sie am 20. März 1919 nach kurzer Krankheit starb. Die Todesanzeige im „Schorndorfer Anzeiger“ hat Dekan Vöhringer unterschrieben „für die noch ferngehaltenen Kinder“, von denen zu diesem Zeitpunkt demnach keins mehr in Schorndorf wohnte.
Ruth Vogtenberger hat, wie ihr Großneffe Matthias berichtet, 1919 an der Pariser Friedenskonferenz teilgenommen und zwar als Teil einer 20-köpfigen Delegation, in der sie eine von zwei Sekretärinnen war. Insgesamt reisten damals 180 Leute per Sonderzug nach Paris. Darunter waren neben den sechs politischen Hauptpersonen unter Außenminister Brockdorff-Rantzau auch „Sachverständige“ aus Wirtschaft und Wissenschaft sowie Journalisten.
„Wie Chirurgen mitten im Ballsaal“
Die Konferenz hatte im Januar begonnen, 27 Nationen nutzten sie, um die Welt unter sich aufzuteilen. Die Deutschen, denen man die Hauptschuld am Ersten Weltkrieg zuschrieb, blieben außen vor.
„Wir kamen uns vor wie Chirurgen, die eine Operation mitten im Ballsaal vornehmen sollten, mit allen Tanten und Anverwandten des Patienten ringsherum“, meinte der britische Diplomat Harold Nicolson zur Atmosphäre im Schloss Versailles. Erstmals in der Geschichte fanden die diplomatischen Gespräche in aller Öffentlichkeit statt, wozu auch eine nie gekannte Präsenz von Fotografen und sogar Filmkameras gehört. Letztere veranlassten Frances Stevenson, die Privat-Sekretärin des Englischen Prime Ministers David Lloyd George, in ihrem Tagebuch zu notieren: „Die Presse zerstört alle Romantik und Feierlichkeit.“ Sie wunderte sich, wie ihr Chef sich angesichts der vielen Kameras, die auf ihn gerichtet waren, überhaupt konzentrieren konnte.
Tippfräuleins arbeiteten die Nacht durch
Erst Ende April reiste auch die deutsche Delegation an, wurde im „Hotel des Réservoires“ untergebracht, abgeschirmt von der Bevölkerung und der Möglichkeit, mit Vertretern anderer Länder ins Gespräch zu kommen. Gleichwohl schaffte es Ruth Vogtenberger, wie man sich in der Familie erzählt, zusammen mit ihrer Kollegin „mittels Charme dennoch einmal am Wachposten vorbei nach Paris zu kommen“. Wenn sie schon mal dort war, musste die 24-Jährige diese Stadt doch einfach mal mit eigenen Augen erlebt haben!
Am 7. Mai schließlich wurde Brockdorff-Rantzau um 15 Uhr vor die Versammlung geladen, aber auch nur, um den bereits fertigen Friedensvertrag entgegenzunehmen. Keine Stunde später war er wieder im Hotel, wo der Rest der Delegation in großer Anspannung gewartet hatte. Umgehend machte man sich an die Übersetzung des 440 Artikel umfassenden Vertrags. Wie der mitgereiste Journalist Victor Schiff festhielt, stellten sich dazu „etwa zwanzig Mann“ zur Verfügung, und „jedem Übersetzer wurde ein Tippfräulein beigegeben“. Diese bearbeiteten jeweils einen Teil des Gesamtwerks, und „um Mitternacht lag der ganze Friedensvertrag fix und fertig übersetzt vor.“ Im Anschluss daran begann die „Vervielfältigungsarbeit“, so dass am Morgen etwa 50 Exemplare angefertigt worden waren für die Männer der Delegation. Mit dem ersten Zug brachte ein Sonderkurier das Gemeinschaftswerk nach Berlin, wo es tags drauf „bereits als stattliches Buch“ im Druck erschienen war.
Ihre eigenen Anregungen und Wünsche durften die Deutschen nur schriftlich einbringen, was eine rege Arbeitstätigkeit verursachte. Als die Delegation am 16. Juli wieder abreiste, war ihr Weg zum Bahnhof von einer aufgebrachten Menge gesäumt. Neben Schmähungen fielen auch Steine, so dass etwa Grete Dornblüth, die Sekretärin von Johannes Giesberts, derart am Hinterkopf getroffen wurde, dass sie bewusstlos in den Zug getragen wurde. Auf der Rückfahrt ging die Arbeit für die Tippfräulein weiter: Die ganze Nacht hindurch wurde eine Übersicht erstellt: die Formulierungen der ersten Vertragsfassung, die deutschen Eingaben dazu und die endgültige Fassung.
Arbeit im Amerikahaus Stuttgart
Nach diesem historischen Arbeitseinsatz lebte Ruth Vogtenberger in Berlin, wo sie bei einem Stickstoff-Syndikat beschäftigt war. Mit ihrer anerkannt hohen Intelligenz war sie in einigen Kreisen der gesellschaftlichen und kulturellen Elite ein gern gesehener Gast. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie erneut auf hoher politischer Ebene als Dolmetscherin und Sekretärin tätig, diesmal für die amerikanische Militärregierung und zwar von 1945 bis 1948. Nachdem sie einige Zeit nach Karlsruhe versetzt worden war, konnte sie wegen der Blockade Berlins nicht mehr an ihren vormaligen Arbeitsort zurückkehren.
Später arbeitete sie in Stuttgart im Amerikahaus. Einem Formular zur Wohnraumgenehmigung vom Juni 1951 ist zu entnehmen, dass sie zuvor in Ludwigsburg gewohnt hatte und nun ein Zimmer in der Hadackerstraße Nr. 14 in Stuttgart zur Untermiete bezog. Im Jahr 1932 muss sie bereits in Stuttgart gewesen sein, denn es gibt ein Porträtbild von ihr, das Käthe Schaller gemalt hat. Die Ehefrau des Kunsthaus-Besitzers war eine ebenso eigensinnige wie begabte Künstlerin.
Stuttgart ist auch als Sterbeort von Ruth Vogtenberger angegeben in der Todesanzeige, die am 4. August im „Ostpreußenblatt“ erschien, Sterbedatum war der 19. Juli 1984. Sie wurde also nicht ganz 90 Jahre alt. Bestattet ist sie im Grab ihrer Mutter auf dem Alten Friedhof in Schorndorf, links vom Haupteingang, noch vor der Kapelle.
„Ruth Vogtenberger blieb ledig und reiste gern“, berichtet ihr Großneffe, „sie besuchte mehrmals Amerika, die Kanarischen Inseln, Griechenland oder machte Kreuzfahrten in Zeiten, als dies noch als ganz außergewöhnlich galt.“ Unter anderem taucht sie in einer Passagierliste im Bremer Staatsarchiv auf: „Ruth Vogtenberger ist am 22 Dezember 1934 mit dem Schiff ‚Columbus‘ von Bremen nach Madeira gefahren“, Anlass war eine Gesellschaftsreise zu Sylvester 1934.