Ruth Vogtenberger

Ruth Vog­ten­ber­ger 1916

Ge­denk­tag
Heute vor 126 Jah­ren kam Ruth Vog­ten­ber­ger in Ost­preu­ßen zur Welt. Ihre letzte Ruhe fand sie hier auf dem Al­ten Fried­hof.
Im Jahr 1919 war sie  bei den Pa­ri­ser Frie­dens­ver­hand­lun­gen da­bei, an je­nem Ort, an dem Ge­schichte ge­schrie­ben wurde. Mög­li­cher­weise schrieb sie diese im wahrs­ten Sinne des Wor­tes so­gar selbst – als Dol­met­sche­rin und Se­kre­tä­rin, die sie war.

„Ein un­ver­geß­li­cher Le­bens­kreis hat sich ge­schlos­sen“ steht über ih­rer To­des­an­zeige im Jahr 1984. Lei­der ist über sie nicht mehr allzu viel be­kannt. Doch das We­nige, das zu er­fah­ren ist, klingt span­nend.

Ruth Vog­ten­ber­gers Mut­ter, Eu­ge­nie, ist eine ge­bo­rene Niet­ham­mer und stammt aus ei­ner groß­bür­ger­li­chen Fa­mi­lie in Ra­vens­burg, der Va­ter war Spi­tal­ver­wal­ter und er­mög­lichte ihr eine erst­klas­sige Aus­bil­dung in ei­nem Pen­sio­nat am Gen­fer See. Als In­ge­nieur mel­dete der 1849 in Tü­bin­gen ge­bo­rene Paul Vog­ten­ber­ger im Jahr 1875 in Ra­vensburg ein Pa­tent auf „ei­gen­tüm­li­che Dampf­ma­schi­nen­steue­run­gen“ an.
In je­nem Jahr wurde Eu­ge­nie Niet­ham­mer 23 Jahre alt. Ge­mäß der Re­cher­chen von Ul­rike Schwäble für den Hei­mat­blät­ter­band über den Al­ten Fried­hof Schorn­dorf hei­ra­te­ten beide und zo­gen nach Kö­nigs­berg in Ost­preu­ßen, wo Paul Vog­ten­ber­ger bei der „Union Gie­ße­rei“ ar­bei­tete. Am 18. No­vem­ber 1894 wurde dort Ma­ri­anne Anita Ruth Vog­ten­ber­ger ge­bo­ren, als jüngs­tes Kind nach ih­rer Schwes­ter Erika und ih­rem Bru­der Curt.

Schon im Jahr 1900 starb Paul Vog­ten­ber­ger. Dar­auf­hin zog es seine Witwe zu­sam­men mit der klei­nen Toch­ter wie­der ins Würt­tem­ber­gi­sche, mög­li­cher­weise, weil ihre Mut­ter, Pau­line Niet­ham­mer, ge­bo­rene Hoff­mann, in Win­ter­bach lebte. Ein „Staats­an­ge­hö­rig­keits­aus­weis“ für Ruth Vog­ten­ber­ger, der be­schei­nigt, dass sie „durch Ab­stam­mung die Ei­gen­schaft als Würt­tem­ber­ge­rin be­sitzt“, wurde am 26. Au­gust 1912 in Schorn­dorf aus­ge­stellt. Zu­letzt wohnte Eu­ge­nie Vog­ten­ber­ger im Pfarr­töch­ter­heim Ma­ri­en­stift in der Schlich­te­ner Straße, wo sie am 20. März 1919 nach kur­zer Krank­heit starb. Die To­des­an­zeige im „Schorn­dor­fer An­zei­ger“ hat De­kan Vöh­rin­ger un­ter­schrie­ben „für die noch fern­ge­hal­te­nen Kin­der“, von de­nen zu die­sem Zeit­punkt dem­nach keins mehr in Schorn­dorf wohnte.

Ruth Vog­ten­ber­ger hat, wie ihr Groß­neffe Mat­thias be­rich­tet, 1919 an der Pa­ri­ser Frie­dens­kon­fe­renz teil­ge­nom­men und zwar als Teil ei­ner 20-köp­fi­gen De­le­ga­tion, in der sie eine von zwei Se­kre­tä­rin­nen war. Ins­ge­samt reis­ten da­mals 180 Leute per Son­der­zug nach Pa­ris. Dar­un­ter wa­ren ne­ben den sechs po­li­ti­schen Haupt­per­so­nen un­ter Au­ßen­mi­nis­ter Bro­ck­­dorff-Rant­zau auch „Sach­ver­stän­dige“ aus Wirt­schaft und Wis­sen­schaft so­wie Jour­na­lis­ten.

Die Kon­fe­renz hatte im Ja­nuar be­gon­nen, 27 Na­tio­nen nutz­ten sie, um die Welt un­ter sich auf­zu­tei­len. Die Deut­schen, de­nen man die Haupt­schuld am Ers­ten Welt­krieg zu­schrieb, blie­ben au­ßen vor.

 „Wir ka­men uns vor wie Chir­ur­gen, die eine Ope­ra­tion mit­ten im Ball­saal vor­neh­men soll­ten, mit al­len Tan­ten und An­ver­wand­ten des Pa­ti­en­ten rings­herum“, meinte der bri­ti­sche Di­plo­mat Ha­rold Ni­col­son zur At­mo­sphäre im Schloss Ver­sailles. Erst­mals in der Ge­schichte fan­den die di­plo­ma­ti­schen Ge­sprä­che in al­ler Öf­fent­lich­keit statt, wozu auch eine nie ge­kannte Prä­senz von Fo­to­gra­fen und so­gar Film­ka­me­ras ge­hört. Letz­tere ver­an­lass­ten Fran­ces Ste­ven­son, die Pri­vat-Se­kre­tä­rin des Eng­li­schen Prime Mi­nis­ters Da­vid Lloyd Ge­orge, in ih­rem Ta­ge­buch zu no­tie­ren: „Die Presse zer­stört alle Ro­man­tik und Fei­er­lich­keit.“ Sie wun­derte sich, wie ihr Chef sich an­ge­sichts der vie­len Ka­me­ras, die auf ihn ge­rich­tet wa­ren, über­haupt kon­zen­trie­ren konnte.

Erst Ende April reiste auch die deut­sche De­le­ga­tion an, wurde im „Ho­tel des Ré­ser­voi­res“ un­ter­ge­bracht, ab­ge­schirmt von der Be­völ­ke­rung und der Mög­lich­keit, mit Ver­tre­tern an­de­rer Län­der ins Ge­spräch zu kom­men. Gleich­wohl schaffte es Ruth Vog­ten­ber­ger, wie man sich in der Fa­mi­lie er­zählt, zu­sam­men mit ih­rer Kol­le­gin „mit­tels Charme den­noch ein­mal am Wach­pos­ten vor­bei nach Pa­ris zu kom­men“. Wenn sie schon mal dort war, musste die 24-Jäh­rige diese Stadt doch ein­fach mal mit ei­ge­nen Au­gen er­lebt ha­ben!

Am 7. Mai schließ­lich wurde Brock­dorff-Rant­zau um 15 Uhr vor die Ver­samm­lung ge­la­den, aber auch nur, um den be­reits fer­ti­gen Frie­dens­ver­trag ent­ge­gen­zu­neh­men. Keine Stunde spä­ter war er wie­der im Ho­tel, wo der Rest der De­le­ga­tion in gro­ßer An­span­nung ge­war­tet hatte. Um­ge­hend machte man sich an die Über­set­zung des 440 Ar­ti­kel um­fas­sen­den Ver­trags. Wie der mit­ge­reiste Jour­na­list Vic­tor Schiff fest­hielt, stell­ten sich dazu „etwa zwan­zig Mann“ zur Ver­fü­gung,  und „je­dem Über­set­zer wurde ein Tipp­fräu­lein bei­gege­ben“. Diese be­ar­bei­te­ten je­weils ei­nen Teil des Ge­samt­werks, und „um Mit­ter­nacht lag der ganze Frie­dens­ver­trag fix und fer­tig über­setzt vor.“ Im An­schluss daran be­gann die „Ver­viel­fäl­ti­gungs­ar­beit“, so dass am Mor­gen etwa 50 Ex­em­plare an­ge­fer­tigt wor­den wa­ren für die Män­ner der De­le­ga­tion. Mit dem ers­ten Zug brachte ein Son­der­ku­rier das Ge­mein­schafts­werk nach Ber­lin, wo es tags drauf „be­reits als statt­li­ches Buch“ im Druck er­schie­nen war.

Ihre ei­ge­nen An­re­gun­gen und Wün­sche durf­ten die Deut­schen nur schrift­lich ein­brin­gen, was eine rege Ar­beits­tä­tig­keit ver­ur­sachte. Als die De­le­ga­tion am 16. Juli wie­der ab­reiste, war ihr Weg zum Bahn­hof von ei­ner auf­ge­brach­ten Menge ge­säumt. Ne­ben Schmä­hun­gen fie­len auch Steine, so dass etwa Grete Dorn­blüth, die Se­kre­tä­rin von Jo­han­nes Gies­berts, der­art am Hin­ter­kopf ge­trof­fen wurde, dass sie be­wusst­los in den Zug ge­tra­gen wurde. Auf der Rück­fahrt ging die Ar­beit für die Tipp­fräu­lein wei­ter: Die ganze Nacht hin­durch wurde eine Über­sicht er­stellt: die For­mu­lie­run­gen der ers­ten Ver­trags­fas­sung, die deut­schen Ein­ga­ben dazu und die end­gül­tige Fas­sung.

Nach die­sem his­to­ri­schen Ar­beits­ein­satz lebte Ruth Vog­ten­ber­ger in Ber­lin, wo sie bei ei­nem Stick­stoff-Syn­di­kat be­schäf­tigt war. Mit ih­rer an­er­kannt ho­hen In­tel­li­genz war sie in ei­ni­gen Krei­sen der ge­sell­schaft­li­chen und kul­tu­rel­len Elite ein gern ge­se­he­ner Gast. Nach dem Zwei­ten Welt­krieg wurde sie er­neut auf ho­her po­li­ti­scher Ebene als Dol­met­sche­rin und Se­kre­tä­rin tä­tig, dies­mal für die ame­ri­ka­ni­sche Mi­li­tär­re­gie­rung und zwar von 1945 bis 1948. Nach­dem sie ei­nige Zeit nach Karls­ruhe ver­setzt wor­den war, konnte sie we­gen der Blo­ckade Ber­lins nicht mehr an ih­ren vor­ma­li­gen Ar­beits­ort zu­rück­keh­ren.

Spä­ter ar­bei­tete sie in Stutt­gart im Ame­ri­ka­haus. Ei­nem For­mu­lar zur Wohn­raum­ge­neh­mi­gung vom Juni 1951 ist zu ent­neh­men, dass sie zu­vor in Lud­wigs­burg ge­wohnt hatte und nun ein Zim­mer in der Ha­d­a­cker­straße Nr. 14 in Stutt­gart zur Un­ter­miete be­zog. Im Jahr 1932 muss sie be­reits in Stutt­gart ge­we­sen sein, denn es gibt ein Por­trät­bild von ihr, das Kä­the Schal­ler ge­malt hat. Die Ehe­frau des Kunst­haus-Be­sit­zers war eine ebenso ei­gen­sin­nige wie be­gabte Künst­le­rin.

Stutt­gart ist auch als Ster­be­ort von Ruth Vog­ten­ber­ger an­ge­ge­ben in der To­des­an­zeige, die am 4. Au­gust im „Ost­preu­ßen­blatt“ er­schien, Ster­be­da­tum war der 19. Juli 1984. Sie wurde also nicht ganz 90 Jahre alt. Be­stat­tet ist sie im Grab ih­rer Mut­ter auf dem Al­ten Fried­hof in Schorn­dorf, links vom Haupt­ein­gang, noch vor der Ka­pelle.

„Ruth Vog­ten­ber­ger blieb le­dig und reiste gern“, be­rich­tet ihr Groß­neffe, „sie be­suchte mehr­mals Ame­rika, die Ka­na­ri­schen In­seln, Grie­chen­land oder machte Kreuz­fahr­ten in Zei­ten, als dies noch als ganz au­ßer­ge­wöhn­lich galt.“ Un­ter an­de­rem taucht sie in ei­ner Pas­sa­gier­liste im Bre­mer Staats­ar­chiv auf: „Ruth Vog­ten­ber­ger ist am 22 De­zem­ber 1934 mit dem Schiff  ‚Co­lum­bus‘ von Bre­men nach Ma­deira ge­fah­ren“, An­lass war eine Ge­sell­schafts­reise zu Syl­ves­ter 1934.

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