Kommentar
Heute vor 100 Jahren ist Sophie Scholl geboren. Sie war Widerstandskämpferin im Dritten Reich und wurde 1943 zum Tode verurteilt, weil sie ein Flugblatt an der Münchner Universität verteilt hatte, in dem auf die üblen Machenschaften Hitlers hingewiesen wurde.
Heute wird allenthalben dieser mutigen Frau gedacht. Politiker loben ihre Haltung, sagen Sätze wie „Wehret den Anfängen“ und „Eine Demokratie braucht Menschen wie Sophie Scholl“. Man darf sich dadurch freilich nicht täuschen lassen, dass die gleichen Politiker, die solches sagen, sehr ungemütlich werden können, wenn jemand ihre eigenen Pläne durchkreuzt. So manche Gemeinderätin hat dies am eigenen Leibe erfahren, wenn sie – ihrem eigenen Gewissen verpflichtet und wegen demokratischer Prinzipien – anders abgestimmt hat, als der Oberbürgermeister es sich gewünscht hat.
Gedenktage bergen eine weitere Gefahr. Wenn nämlich Lieschen Müller und Otto Normalverbraucher die Geschichte der Heldin von einst hören, kann es passieren, dass sie unwillkürlich im Geiste in deren Rolle schlüpfen. So, wie sie sich in einem Spielfilm mit der Heldenfigur identifizieren, oder vom Sofa aus die Nationalmannschaft anfeuern, um später stolz zu sagen: „Wir sind Weltmeister.“ Dass sie sich also im Geiste als Widerstandskämpfer sehen, voller Überzeugung, sie hätten damals auch so gehandelt. Und dann vergessen, dass das reine Phantasien sind, während sie aktuellen Missständen gegenüber blind sind.
Freilich gibt es Menschen, die durchaus den Bogen von damals ins Heute schlagen und sich aktiv politisch einsetzen. Sie haben aus der Geschichte gelernt. Jawohl! sagen sie. So etwas darf nie wieder geschehen. Und nachdem die Geschwister Scholl in ihrem Todesurteil als „Vaterlandsverräter“ bezeichnet wurden, wissen sie auch, was zu tun ist: Wenn jemand einen Kritiker als „Vaterlandsverräter“ tituliert, heißt es aufpassen. Dann gehört der, der das sagt, zu den Vertretern eines verbrecherischen politischen Systems. – Dumm ist leider nur, dass dieser Begriff nicht mehr auftauchen wird. Denn das Böse kommt in immer neuen Masken daher.
Sollten wir Gedenktage also besser abschaffen? Offenbar richten sie mehr Verwirrung und Schaden an als Gutes. Die Antwort lautet klar: Nein. Denn es gibt noch eine 4. Gruppe von Menschen. Diese durchschauen das Prinzip von Machtmissbrauch. Das sind Menschen, die sich ihren gesunden Menschenverstand erhalten haben und nicht auf Propaganda hereinfallen, egal unter welchem Deckmantel sie daherkommt.
Das sind die Menschen, die nicht auf dem bequemen Sofa sitzenbleiben. Das sind Menschen, die zu ihrer Überzeugung stehen, auch wenn sie zunächst eine kleine Minderheit sind. Wenn ihnen der rauhe Wind derer entgegenbläst, deren Pläne sie durchkreuzen. Die verunglimpft werden von Mitmenschen, die sich mit der Regierung identifizieren.
Auch Sophie Scholl und ihre Mitstreiter wurden zu Lebzeiten alles andere als bejubelt von der Mehrheit der Bevölkerung. Das Beste was wir solchen Widerstandskämpferinnen wie Sophie Scholl als Würdigung erweisen können, sind nicht die lobenden Worte, sondern sind die Taten, die wir in ihrem Sinne vollbringen.