Gedenktag«
Zum „Fest der Liebe“ haben Filme Hochkonjunktur, in denen ein zuvor verhärtetes Herz aufgeweicht wird: Wenn der geläuterte Protagonist sich mit seinen Mitmenschen, auch mit dem vermeintlichen Widersacher, versöhnen kann. Charles Dickens‘ „Christmas Carol“ ist so eine.
Noch schöner sind Geschichten, die sich auch tatsächlich auf diese Weise zugetragen haben. Eine solche hat Oliver Dierssen vor zwei Jahren erlebt. Er ist Jugendpsychiater und wurde dafür beschimpft, dass er öffentlich einem Mädchen riet, es solle der Lehrerin melden, wenn seine MitschülerInnen ihre Gesichtsmaske nicht richtig tragen.
Kritiker meinten, er rufe damit die jungen Leute zur Denunziation auf. Das wollte er so nicht stehenlassen. Allerdings mit der Maßgabe, die er in seinen Kolumnen beim „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ propagiert: „Eine sanftmütigere Haltung lohnt sich.“
Er weiß, dass eine harsche Kritik das Selbstwertgefühl des Gegenübers erschüttern kann. Und: „Wer sich missachtet fühlt, gibt ungern nach.“ Warum? „Weil schon das Nachgeben unser Selbstwertgefühl noch weiter verletzen kann.“ Es gehe nämlich nicht nur ums Rechthaben, „sondern auch um Stolz, Würde, Selbstachtung“.
Und so veröffentlichte er seine Ansichten „über sogenannte ‚Querdenker‘ und ‚Coronaleugner‘, über Macht und Ohnmacht, Isolation, Diktatur und vielleicht auch Verzeihen“.
Beschimpft zu werden, sei für ihn nichts Neues, erklärte er da vorneweg. Er habe sich „sozusagen an die Beschimpfungen gewöhnt“ und sei „hart im Nehmen“, teile aber auch aus. Selbstkritisch fügt er an: „Wenn ich mich missachtet fühle, gebe ich viel zu oft Missachtung zurück.“
Er könne dies aus einer privilegierten Position heraus tun: als Mann mit Doktortitel, der Raum zum Leben und genügend Geld hat. „Das hat sich für mich richtig angefühlt, aber es ist nicht richtig.“
Seine Analyse setzt bei der „Pandemiepolitik“ an. Diese habe vielen Menschen „wahnsinnig Angst gemacht“. Insbesondere die Erfahrung einer „allgegenwärtigen staatlichen Übermacht, die mit Polizei auf den Straßen und Apps in alle Lebensbereiche eingriff“.
Dass es möglich war, dass diese Übermacht bildlich gesprochen „sogar durchs Wohnzimmerfenster schaute, um die Kinder auf dem Kindergeburtstag zu zählen“, erfüllte ihn mit Erstaunen darüber, „wie schnell und einfach das ging“.
Schlimmer noch: Dass Kritiker, die durch solche Maßnahmen die Demokratie in Gefahr sahen, belächelt wurden. „Dieses Lächeln bleibt mir heute im Halse stecken.“ Zumal etliche dieser Kritiker „aus ehemaligen Ostblockstaaten mit Diktaturerfahrung“ stammten, und entsprechend alarmiert waren.
Im direkten Kontakt mit Querdenker erfuhr er zudem: „Die meisten von ihnen bildeten sich fort, so sie es konnten.“ Sie „versuchten anfangs, mit ihren Fragen und Sorgen in der Allgemeinheit vorzudringen“. Sie hätten keineswegs „Bubbles und Echokammern“ gesucht, sondern wollten an der allgemeinen Diskussion teilnehmen. Viele hätten ihm gesagt: “Ich habe mich nicht von den anderen entfernt, sondern ich wurde immer mehr auf Distanz gehalten.”
Er hält es für einen „fataler Fehler“, solche Menschen, „die sich um Demokratie und Meinungsfreiheit sorgen, als Faschisten zu brandmarken“.
Für ihn sei „der Prozess des Verstehens“ dadurch eingeläutet worden, dass er – wenn auch mitunter nur notgedrungen – begonnen habe, zuzuhören. In dem „tosenden, wütenden Protest“ der ihm „ins Gesicht geschrien und geschrieben wurde“ habe er „tatsächlich Klugheit, Sorge, Humanismus gefunden“.
Und: „Das war erschütternd für mich.“ Nicht allein, weil ihm eigene falsche Entscheidungen bewusst wurden, was natürlich an seinem Stolz gekratzt habe. Sondern weil er plötzlich eine Ahnung davon bekam, wie es für diese kritischen Menschen gewesen sein musste, wenn sie „abgewiesen und missachtet wurden und trotzdem jeden Tag so freundlich wie möglich zur Arbeit gehen“.
Das habe ihn „berührt und furchtbar traurig gemacht“. Er ist überzeugt, dass es in unserer Gesellschaft nicht an Demokraten mangele, sondern „höchstens am Vertrauen darauf, dass die demokratische Macht in den Händen der ‚anderen‘ gut aufgehoben ist“.
Abwertende Begriffe für Menschen mit anderer Meinung spalten seiner Ansicht nach die Gesellschaft. „Sie führen dazu, dass wir uns verachten, uns die Menschenwürde nehmen.“
Auf den Einwand „Ja, aber die anderen haben gesagt…“, reagiert er mit der Empfehlung „Hören Sie zu, auch wenn Sie anderer Meinung sind“.
Aus der „Verachtungsspirale“ aussteigen, erfordere die Einsicht, dass man selbst oft falsch liege. Auch er. Aber, wie gesagt: „Eine sanftmütigere Haltung lohnt sich.“
In diesem Sinne wünschen wir allen Leserinnen und Lesern versöhnliche, frohe Weihnachten!