Nachruf
„Und wer sind Sie?“ wurde Christel Kohnle vom Aufnahmeleiter des SDR etwas unfreundlich angesprochen, als sie ihm in der „Becka-Kurze“ über den Weg lief. An diesem Tag im Mai 1986 drehte das Fernsehteam dort eine Szene über Robert Bosch, hatte sich die urige Kneipe in Schorndorfs Altstadt als Kulisse erkoren. „I be zufällig d‘ Wirtin“, konterte Christel schlagfertig und brachte den Mann zum Verstummen.
Ihr kleines Wirtschäftle war nicht nur ein optisches Juwel für die Fernsehleute. Auch für die Schorndorfer war es 17 Jahre lang etwas ganz Besonderes, das seinesgleichen sucht. Der Grund dafür: Weil auch Christel Kohnle etwas ganz Besonderes war. Mit 25 Jahren erfüllte sich die gebürtige Welzheimerin hier den Traum von einem eigenen Lokal. Sie stammt aus einer Wirtsfamilie, lernte Köchin und Hotelkauffrau.
Als sie die „Becka-Kurze“ im Sommer 1981 eröffnete, war es äußerst ungewöhnlich, dass eine Frau, dazu noch alleinstehend, sich auf diese Weise selbständig machte. Ihre Mutter hatte ihr das Holztäfelchen mit dem Spruch „Wer die Wirtin kränkt, wird aufgehängt“ geschenkt. Es amüsierte die Kundschaft, und es half ihr, sich Respekt zu verschaffen. So wurde sehr schnell aus dem Geheimtipp eine Institution in Schorndorf.
Was war ihr Geheimnis? Zum einen ist die Gaststätte klein und urig, holzgetäfelt und mit einer durchlaufenden Sitzbank an den Seitenwänden. Nur vier große Tische stehen im Gastraum. Zum anderen bot die Christel urschwäbische Küche. Da gab es kein Chichi, sondern Gerichte, wie bei Muttern: selbstgemachte Maultaschen, „Kartoffelschnitz und Spatzen“ (Gaisburger Marsch), Kutteln oder „Brägala mit Ochsa-Auga“ (Bratkartoffeln mit Spiegelei). Das Speisenangebot war auf einem Spätzlesbrett mit dem Brennstab geschrieben. Davon gab es nur ein Exemplar, und die Gäste mussten warten, bis es an sie weitergereicht wurde.
Christel Kohnles großes Verdienst ist, dass sie das Ursprüngliche und Echte der hiesigen Küche lebendig hielt. Und genauso echt und ehrlich war auch sie. Da konnte es schon mal passieren, dass sie ihre Gäste anraunzte, wenn ihr etwas nicht passte. Sie hat aus ihrem Herzen keine Mördergrube gemacht, sondern war immer frei heraus. Und die Gäste honorierten das, sagten: „So ist halt unsere Christel“ – und kamen alle immer gern wieder.
Mehr noch: Sie waren stolz auf dieses Gastronomie-Kleinod in der Altstadt. Wer Besuch von auswärts bekam, führte diesen selbstverständlich hierher zum Essen. So haben sich auch viele Prominente, die auf Tournee nach Schorndorf kamen, im Gästebuch der „Becka-Kurze“ verewigt, unter ihnen Peter Schilling, das Brandis Quartett, Elmar Gunsch, Peter Horton, Walter Schultheiß, georgische Minister, die Gruppe „Fools Garden“, Helmut Palmer, und, und, und.
Sie schaffte es, dass sich jeder bei ihr wie Zuhause fühlte. Da debattierten Stadträte in der „Nachsitzung“ neben Menschen, die wegen eines preiswerten Essens herkamen. Sportler, Unternehmer, Jung und Alt, Reich und Arm. Sie saßen notgedrungen eng beieinander und kamen ins Gespräch. Für die Wirtin gab es keine Bevorzugung von vermeintlich hohen Tieren. Und sie hat dort nicht nur ihren eigenen Mann, Hans Langenbach, gefunden, sondern auch einer Studentin, die bei ihr als Bedienung jobbte, zu ihrem Lebensglück verholfen, nämlich dem meinigen. Weil ich dort meinen Mann traf, der das Beste ist, was mir je passiert ist.
Christel ebnete als Pionierin den Weg für andere Frauen in einem bis dato von Männern dominierten Wirtschaftszweig. Sie führte bewährte Traditionen fort, und hielt sie dadurch lebendig. Das betrifft nicht nur das Speisenangebot und die ursprünglich erhaltene Inneneinrichtung der „Becka-Kurze“, sondern auch die Kultur, wozu der traditionelle Brezelgaigel des Handels- und Gewerbevereins gehörte, der Mundartstammtisch oder der „Literkranz fröhliche Sängergurgel“, dessen Fanclub-Vorsitzende sie war.
Ihr späterer Traum von einer Wirtschaft in Mallorca zerplatzte. Im „Abseits“ der SG Schorndorf kam nicht mehr die gleiche Atmosphäre auf. In der „Eintracht“ in Waiblingen knüpfte sie noch einmal an ihr ursprüngliches Konzept an. Dann kam ein Schlaganfall, dann starb ihr Mann, Hans Langenbach. Christel zog wieder zurück nach Schorndorf, war noch ab und zu auf der SchoWo am Stand der Metzger im Einsatz. Anfang vorigen Jahres bekam sie einen dritten Schlaganfall, nach einem vierten im März 2021 wurde sie zum Pflegefall. Am 16. März ist sie jetzt 65-jährig gestorben, nur einen Monat nach dem Tod ihres früheren Kochs Harald Schaale. Die Beisetzung erfolgt im kleinsten Familienkreis im Friedwald in Göppingen.
Sie war die beste Chefin, die ich je erlebt habe. So, wie sie anmaßende Gäste in die Schranken weisen konnte, zollte sie dem Einsatz ihrer Angestellten stets vollste Anerkennung. Sie sah es einfach, wenn man besonders gefordert war, zum Beispiel wenn man an einem heißen Sommertag rennen musste wie ein Hase, um den Durst aller Gäste zu stillen. Das war für sie nicht selbstverständlich. Sie honorierte es mit einen zusätzlichen 20-Mark-Schein.
Sie war eine großartige Frau. Eine Frau, die ihren eigenen Weg ging. Eine Frau mit Mut, Temperament und Humor. Sie war, was es leider viel zu selten gibt: Eine Frau, die aus dem Herzen heraus lebte, liebte, lachen konnte. Eine ehrliche Haut. Sie hatte, wie man sagt, das Herz auf dem rechten Fleck. Und für sie galt das alte Sprichwort „Ich hab ein Maul, dem geb ich zu essen, das muß reden, was ich will“.