Meine liebe Schwester,
nächste Woche beginnt sie also: Deine Aufgabe als Stadträtin, gewählt von Hunderten SchorndorferInnen, um deren Belange zu vertreten. Ich weiß, dass Du selbst immer noch staunst, wie Du zu diesem hohen Amt gekommen bist, und ich weiß, dass da auch ein bisschen Bammel ist, ob Du dem auch gerecht werden kannst.
Ich kann Dir sagen: Dieser Bammel ist Dein bester Ratgeber. Er bewahrt Dich vor Überheblichkeit, er bewahrt Dich vor Abstumpfung. Auch wenn Deine altgedienten KollegInnen sich bereits daran gewöhnt haben, dass sie über Millionenbeträge entscheiden, wünsche ich Dir, dass Du Dich nie daran gewöhnst! Sondern dass Du Dir stets bewusst bist, dass dieses Geld mühsam von anderer Leute Arbeit erwirtschaftet wurde.
Vieles, was Du im Ratssaal antreffen wirst, wird Dir zunächst sehr merkwürdig erscheinen. Auch das ist gut. Bewahre Dir dieses Staunen, dieses genaue Hingucken, diese innere Distanz! Und: Frage! Frage nach, wenn Du etwas nicht verstehst, was in einer Vorlage steht, was als Begründung für ein Vorgehen genannt wird. Frage!
Du hast das Privileg als Neuling. Viele andere haben dies nicht genutzt, weil sie fürchteten, als dumm zu gelten. So konnten sie nicht wirklich klug werden und sind gezwungen, bis heute immer nur so zu tun, als ob sie Bescheid wüssten. Das kann sehr anstrengend sein. Erspare Dir das lieber. Und: Mit Deiner Frage verhilfst Du letztendlich auch diesen Altgedienten zu einer Antwort, auf die sie schon lange gewartet haben.
Frage also, warum Ratssitzungen nicht per Livestream übertragen werden. Frage nach, warum die Erhöhung der Eintrittspreise fürs Hallenbad nichtöffentlich beraten wird. Frage, warum die Klimaschutz-Stelle personell aufgestockt wird, um weitere Konzepte zu erstellen, sie aber weder neue Betonbauten noch die Versiegelung von Böden verhindert.
Hinterfrage, warum hauptamtliche Stadt-Angestellte Palmen und Liegestühle auf dem Marktplatz auf- und abbauen zur Bespaßung von Erwachsenen, gleichzeitig aber die Sprachförderung ausländischer Kinder, die die Basis der Integration ist, von Ehrenamtlichen betrieben wird. Oder was der Sinn eines „Klausurtreffens“ von Gemeinderat und Verwaltungsspitzen (samt gemütlichem Beisammensein) in einem teuren Hotel ist.
Nicht nur Du fragst Dich, wie es sein kann, dass ausgerechnet Schorndorf, mit der höchsten Verschuldung aller Städte im Kreis, sich als einzige Stadt den Luxus einer – von Steuergeldern bezahlten – Justiziarin leistet. Oder warum die Stimmzettel von Briefwählern nicht in die Urne des Bezirks geworfen werden, aus dem sie stammen.
Oft lautet die Antwort: Das ist historisch gewachsen. Und diejenigen, die das schon seit Jahren tun, merken die Widersprüche gar nicht mehr. Genau hier bist Du diejenige, die das erkennen und ändern kann. Bitte schieb diese Fragen nicht allzu lange auf, denn über kurz oder lang wirst Du selbst betriebsblind geworden sein.
Auch wenn Du Dir dessen nicht bewusst bist, so besteht Dein Amt in mehr als nur dem Lösen von Problemen, die sich in der Stadt auftun, und Entscheidungen über die Verwendung der Euch anvertrauten Steuergelder. Du trägst vielmehr in jeder Sitzung Deinen Teil zur Entwicklung der Demokratie bei.
Diese ist nämlich keineswegs, wie man(che) meint, fest etabliert, sondern ein System, das in einem ständigen Prozess erst im Werden ist. Sämtliche Strukturen basieren auf dem „Vorgängermodell“: der Monarchie. So, wie auch Daimlers erstes Automobil noch ganz die Form einer Kutsche hatte. Schau Dir heutige Autos an, und Du weißt, was da noch alles inzwischen an Verbesserungen umgesetzt wurde.
Das alte politische Modell bestand in einem Fürsten und einer Gruppe von Männern, die dieser sich als Ratgeber auswählte. Die Auserkorenen taten alles, um diese Rolle nicht aufs Spiel zu setzen und ihre herausragende Stellung zu gefährden. Also hielten sie sich mit Kritik zurück und stimmten ihrem Herrn meistens eifrig zu.
Auch wenn ein Oberbürgermeister keinen Stadtrat entlassen kann, ist in manchen Köpfen dort solch ein Denken immer noch vorhanden. Wenn es immer mal wieder mäkelnd heißt, der Gemeinderat sei „zerstritten“, bemüht man sich schnell darum, Einigkeit zu demonstrieren. Was leider dem Gemeinwohl alles andere als gut tut. Denn gerade der leidenschaftliche Gedankenaustausch, das Einbringen konstruktiver Ideen verhilft zu Lösungen, die der/die einzelne im stillen Kämmerlein allein niemals gefunden hätte.
Die Fürsten der Barockzeit sahen sich in einem Konkurrenzkampf untereinander. Sonnenkönig Ludwig XIV. wollte mit Prunkbauten alle anderen Herrscher übertrumpfen – und diese begannen einen Wettstreit. Viele schöne Schlösser und Gärten entstanden auch in Deutschland, Kunst und Kultur wurden gefördert. Mit den Bedürfnissen der Bevölkerung, von deren Geld das alles bezahlt wurde, hatte dies wenig zu tun.
So ganz hat sich mancher Oberbürgermeister noch immer nicht von diesem Wettbewerbsdenken verabschiedet. Sie meinen, das Volk mit „Leuchttürmen“ beglücken zu müssen. Meist werden diese Prestigebauten und Kultur-Aktionen damit begründet, dass sie angeblich Fachkräfte in die Stadt locken.
Du, meine Liebe, weißt es besser: Begehrte Fachkräfte brauchen in erster Linie eine gute Kinderbetreuung. Und alles andere, was auf deren Wunschliste auf den oberen Plätzen steht, hat Schorndorf sowieso schon: eine gewachsene Struktur von historischen Bauten und Parks, Wald und Weingärten, eine lebendige, engagierte Bürgerschaft, Juwele des Einzelhandels, weil sie inhabergeführt sind, also ihren Altvorderen verpflichtet und daher entsprechend leidenschaftlich und umsichtig betrieben.
Das Einzige, was negativ auffällt, ist der hohe Schuldenstand der Stadtkasse – entstanden durch zu viele Bauprojekte (s.o.), die uns als Abbau eines „Investitionsstaus“ verkauft werden. Übrigens: Hier siehst Du, wie durch wichtig und richtig klingende Begriffe eine eigene Scheinrealität geschaffen wird. Dem wirst Du in Sitzungsvorlagen der Verwaltung noch öfters begegnen.
Auf den ersten Blick lesen sich Begründungen für deren Anträge recht einleuchtend. So kommt man manchmal erst später drauf zu fragen: Warum musste es eigentlich ausgerechnet ein „Bewegungskindergarten“ sein, der doppelt so viel kostet wie eine einfache Kita? Hätte man mit zwei stinknormalen Kitas zum gleichen Preis nicht viel mehr Kinder betreuen können?
Sehr beliebt ist auch das Abgreifen von Fördergeldern. In blinder Gier wird alles getan, um an diese Töpfe zu gelangen. Aus purem Neid, dass nicht andere Kommunen in deren Genuss kommen und Projekte verwirklichen, durch die sie im (eingebildeten) Wettkampf der Städte (vermeintlich) besser dastehen.
Du als Hausfrau weißt: Auch wenn es ein Händler mit 40 Prozent Preisnachlass lockt! Wenn kein Geld in der Haushaltskasse ist, kaufe ich dieses „Schnäppchen“ nicht. Denn woher kommen denn die restlichen 60 Prozent? Jeder Schuldnerberater schlägt die Hände über dem Kopf zusammen, wenn ein Privatmensch für so etwas einen Kredit aufnimmt. Die Stadt hat leider keinen solchen Berater. Daher vergisst sie auch manchmal, dass jede Investition zusätzliche Unterhaltskosten nach sich zieht. Beim Hallenbad sind das jährlich 3 Millionen Euro.
Als Frau hast Du einen enormen Vorteil gegenüber der Mehrzahl der Mitglieder im Gemeinderat: Du bringst bereits eine wesentliche Erfahrung mit, nämlich im Bereich der Emanzipation. Du kennst den Weg, der aus den Fesseln alter Denkmodelle herausführt. Deine Mutter war noch ganz anders geprägt.
Du weißt, dass dieser Weg zwar mit Steinen gepflastert ist, aber Du weißt auch, wie man diese umgeht und Schwierigkeiten zu Erfolgsgeschichten macht. Das kannst Du jetzt nutzbringend in Sachen Demokratie-Entwicklung im Gemeinderat einbringen.
Auf Dir und Deinen Schwestern dort liegen unsere Hoffnungen, dass Du den „Laden“ zu einem wirklich demokratischen Gremium machst, das nicht nur brav abnickt, was die Vorsitzenden ihm (mitunter als „alternativlos“) vorschlagen.
Auf dass es ein Gremium werde, in dem lebendig diskutiert wird, gern auch kontrovers, weil genau daraus Neues entstehen kann. Ein Gremium, in dem jede Stimme und Ansicht respektiert wird, unabhängig, ob einem die Nase dessen, der das sagt, passt oder nicht. Es geht nicht um Nasen. Es geht um das Wohl der Gemeinschaft in dieser Stadt.
Die Augen all Deiner Wählerinnen ruhen wohlwollend auf Dir, auch erwartungsvoll. Sei nicht bange! Auch ihrer Rückenstärkung kannst Du Dir stets gewiss sein. Eine alte Weisheit bezüglich großer Aufgaben besagt: „Du musst selbst anpacken, aber Du musst es nicht allein machen.“
Meine besten Segenswünsche begleiten Dich dabei!