Buchbesprechung
Über Anna Haag, die Pazifistin aus Althütte, ist jetzt im 8grad-Verlag ein Buch erschienen. Zu diesem Zweck hat die Historikerin Dr. Gabriela Katz sich Anna Haags Tagebücher, in denen diese ab 1940 ungeschminkt Kritik am NS-Regime übt, als Vorlage genommen. Entstanden ist daraus ein „poetisches Porträt einer mutigen Frau, die in dunkler Zeit ihre Stimme findet“, wie auf dem Buchrücken angekündigt wird.
Anna Haag wählte damals den unbequemeren Weg. Statt in der Menge mitzuschwimmen und sich somit zu den „Guten“ zählen zu dürfen, ließ sie sich nicht von der Propaganda verführen. Die bei Kriegsbeginn 51-jährige Haag bewahrte sich eine Eigenschaft, die andere offenbar verloren hatten, nämlich: selbst zu denken. So notierte sie Anfang 1941 fast erstaunt: „Zuweilen habe ich den Eindruck, als ob ein Massenwahnsinn das deutsche Volk ergriffen habe und als ob ein Gehirnschwund um sich fräße. Denken ist heute überhaupt nicht mehr Mode.“
Dass Anna Haag vor dem Krieg in der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit engagiert war, kam ihr dabei sicherlich zugute. Sie hielt zum Beispiel mehr weibliche Beteiligung in der Politik für nutzbringen, wenn nicht sogar notwendig: „Man müsste sich doch denken können, dass verantwortungsbewusste Frauen, Frauen, die im Leben stehen, die, von seinen Stürmen zerzaust, wacker standgehalten haben, Frauen, die sachlich sind, ohne Eitelkeit, weil sie dazu gar keine Zeit haben, durch ihre Mithilfe bei der Leitung der Staatsgeschäfte wohltuend auf die Entwicklung des Staates und auf das Wohlbefinden der Bürger wirken müssten.“
Gabriele Katz wählt aus Haags Niederschrift einzelne Szenen aus, die sie mit Zeitkolorit garniert und durch historisches Wissen ergänzt. Da schildert sie etwa, wie Anna Haag mit einer Freundin zum Plausch in Stuttgart im Café sitzt, oder mit ihrem Mann nach einem Konzert mit der Straßenbahn nach Hause fährt. Und sie setzt das Erlebte in Zusammenhang mit historisch relevanten Ereignissen, wie etwa: „Am 18. Februar fragte Joseph Goebbels mit sich hysterisch überschlagender Stimme im Berliner Sportpalast: „‘Wollt ihr den totalen Krieg?‘“
In gleichem Maße versucht Katz, uns auch die Tagebuchschreiberin plastisch vor Augen zu führen. Als Anna Haag beispielsweise erfährt, russische Kriegsgefangene litten so sehr unter Hunger, dass sie sich gegenseitig aufäßen, schreibt Katz: „Anna schüttelte sich. Im Haus schwankte sie zur Toilette und übergab sich. Ich bin hilflos. Ich lebe nicht, ich werde gelebt.“
Immer wieder wird betont, wie gefährlich das Tagebuchschreiben ist, weil Anna dafür ins Gefängnis gebracht, für ihre Kritik an der Staatsführung sogar getötet werden kann. Katz belässt es nicht dabei, dass das Schreiben für Anna Haag eine wichtige Ventilfunktion erfüllte, sondern wählt manche, dem Tagebuch anvertrauten Gedanken, und lässt sie ihre Protagonistin einem treuen Volksgenossen direkt ins Gesicht sagen. Hier könnte das ehrenhafte Anliegen, Geschichte lebendig zu erzählen, Mutmaßungen hervorbringen, wozu sich die lebenserfahrene Haag nicht hätte hinreißen lassen. Dabei braucht es diesen zusätzlichen Nervenkitzel gar nicht, ihre Gedanken allein sind stark genug.
Gabriele Katz‘ Verdienst ist definitiv, mit ihrem Buch Anna Haag, diese so wichtige Pazifistin, einer Leserschaft näherzubringen, welche sich das Original-Tagebuch mit seinen 429 Seiten eher nicht kaufen, geschweige denn lesen würde. Durch die kleine, handliche Form, in der Katz uns Anna Haag schlaglichtartig auf 139 Seiten präsentiert, taugt ihr Buch als Geschenk ebenso wie als Anreiz, sich das Original dann vielleicht doch einmal anzuschauen. Dieses wurde übrigens zum „Historischen Buch des Jahres 2022“ in der Kategorie Autobiographie gekürt.
Der 8grad-Verlag („für geneigten Buchfreund:innen“) wurde erst dieses Jahr gegründet, von Matthias Grüb, der sich schon länger darüber geärgert hatte, dass Buchhandelsketten überall dieselben Bücher anbieten. Er wollte diesem „Verlust der Vielfalt entgegenwirken“. Seinen Schwerpunkt legt er auf Werke mit „literarischem, landeskundlichem und/oder kulturhistorischem Bezug zum Südwesten Deutschlands“.
„Anna Haag – Schreiben in Zeiten des Kriegs“ von Gabriele Katz, 156 Seiten mit Abbildungen, 24 Euro, ISBN: 978–3‑910228–00‑9.